„Der Leerstand in den Ortschaften wird zunehmen“

Kurz vor Weihnachten wurde die Leerstandserhebung zum Streitfall im Einbecker Stadtrat. Im Doppelinterview setzen Antje Sölter und Dirk Heitmüller die Debatte fort – sprechen aber auch über Gemeinsamkeiten. Sölter (CDU) ist Ortsbürgermeisterin in Vardeilsen und Avendshausen sowie stellvertretende Bürgermeisterin der Stadt. Heitmüller (SPD) ist Ortsbürgermeister in Salzderhelden.

Blick in den alten Ortskern von Salzderhelden. Hier könnte der Leerstand in den kommenden Jahren wachsen, befürchtet Ortsbürgermeister Dirk Heitmüller: "Ein Problem sehe ich zum Beispiel bei den großen Bauernhäusern mit Stall auf uns zukommen."

In der jüngsten Ratssitzung haben Sie sich einen Schlagabtausch zur Leerstandserhebung geliefert. Warum?

Heitmüller: Mich hat geärgert, dass wir die Entscheidung ohne Diskussion in den Ortsräten getroffen haben. Gerade beim Leerstandskataster finde ich es wichtig, dass die Leute mitgenommen werden. Natürlich sind die Unterlagen für den Stadtrat öffentlich, sodass sich jeder informieren kann. Aber nicht jedes Ortsratsmitglied schaut in das Ratsinformationssystem. Davon abgesehen hätte eine Beteiligung der Ortsräte zu besseren Ergebnissen geführt, weil Fehler rechtzeitig vor dem Ratsbeschluss aufgefallen wären. So haben wir die Leerstandserhebung mit falschen Zahlen verabschiedet, die nun nachträglich korrigiert werden müssen.

Sölter: Ich kann die Klage nicht mehr hören, dass die Orte angeblich abgehängt werden. Aus meiner Sicht sind die Ortsräte gut eingebunden. Allerdings ist das auch eine Frage von Hol- und Bringschuld. Ich bin niemand, der zuhause sitzt und darauf wartet, dass die Verwaltung bei mir klingelt. Man kann da auch von sich aus nachfragen. Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass man aus dem Rathaus gute Informationen bekommt.

Im Kern geht es um die Grundsatzfrage, wie Einbeck mit Leerstand bei gleichzeitigem Bevölkerungsschwund umgeht. Was ändert es, wenn einige Leerstände oder Baulücken falsch erfasst wurden?


Heitmüller: Es geht nicht um kleine Abweichungen, sondern um gravierende Fehler. In Salzderhelden waren ursprünglich 15 Baulücken vermerkt, tatsächlich sind darunter aber nur sehr wenige verfügbare Bauplätze. Zum Beispiel wurden einige große Gärten als Baugründstücke gewertet. Tatsächlich haben die Besitzer aber überhaupt keine Absicht, die Flächen zu verkaufen. Inzwischen sind diese Fehler korrigiert. Aber ich möchte grundsätzlich nicht, dass solche Diskussionen an den Ortsräten vorbeigehen.

Sölter: Ich finde, in erster Linie ist es unsere Aufgabe als gewählte Ratsmitglieder, uns mit diesen Fragen zu beschäftigen. Dass man anschließend die Öffentlichkeit oder die Ortsräte informiert, steht auf einem anderen Blatt. Deshalb frage ich mich: Geht es hier um die Sache oder darum, noch einmal gegen die Verwaltung zu schießen?

Antje Sölter.
Dirk Heitmüller.
Unabhängig von den Zahlen scheint Leerstand in Einbeck und den Ortschaften ein wachsendes Problem zu sein…

Heitmüller: Für die Kernstadt mag das gelten, für die Ortschaften würde ich es so nicht sagen. In Salzderhelden sehe ich zwei oder drei leerstehende Häuser – bei 1.800 Einwohnern ist das nicht viel.

Sölter:
Da stimme ich zu. Ein großes Leerstands-Problem sehe ich auch in Vardeilsen und Avendshausen nicht.

Heitmüller:
In zehn Jahren kann das natürlich anders aussehen. In diesem Zeitraum wird der Leerstand in den Ortschaften wahrscheinlich zunehmen. Ein Problem sehe ich zum Beispiel bei den großen Bauernhäusern mit Stall auf uns zukommen. Früher haben in solchen Gebäuden drei Generationen gewohnt – heute ist es manchmal nur noch die Oma. Die Frage ist: Was kommt danach? Wer will so ein Objekt kaufen? Im alten Ortskern von Salzderhelden gibt es etliche dieser Häuser.

Sölter: Möglicherweise müssen wir in den Dörfern an neue Konzepte denken – beispielsweise Mehrgenerationenwohnen. Das Problem ist: Dazu brauchen wir Investoren. Ich befürchte auch, dass wir in den Dörfern in zehn Jahren mehr Leerstand haben als heute. Andererseits sehe ich einen gegenläufigen Trend. Viele Jugendliche gehen zwar weg zum Studieren. Aber man kann nicht mehr pauschal sagen, dass sie nicht wieder kommen. Diese Zeiten sind vorbei. Nicht alle wollen in die Großstadt. Viele wissen auch das Leben auf dem Land zu schätzen.

Heitmüller: Wir müssen flexibler werden in unserem Denken. Nehmen wir an, eine ältere Person wohnt allein in einem großen Haus. Warum kann man da nicht sagen: Ich verkaufe meine Immobilie an eine Familie und behalte ein lebenslanges Wohnrecht? Wenn man sich einig ist, können die Alten auf die Kinder aufpassen und die Eltern gehen beide arbeiten. Im Gegenzug achtet die Familie darauf, dass die älteren Mitbewohner gut versorgt sind.

Sölter: Das ist genau, was ich meine. Allerdings befürchte ich, dass das mit der jetzigen Senioren-Generation schwierig wird. Etliche leben schon so lange allein, dass sie so eine Umstellung nicht mehr möchten. Aber es sollte unser Ziel sein, die Leute darauf hinzuweisen, dass es andere Formen des Zusammenlebens gibt. In einer halben Generation sind wir vielleicht einen Schritt weiter.

Sie sagen: Es gibt einen Trend zur Rückkehr aufs Land – aber es gibt auch viele Probleme. Was kann die Politik tun, um das Leben auf dem Dorf attraktiv zu machen?


Sölter:
Ein wichtiges Thema ist die Infrastruktur – ganz besonders das Internet. Für Leute, die zuhause arbeiten, ist das entscheidend. Solange man ewig vor dem Computer sitzt und auf eine Datenübertragung wartet, ist das Leben auf dem Dorf sicherlich nicht attraktiv.

Blick auf Avendshausen. Hier droht die schlechte Internetverbindung zum Standortnachteil zu werden, warnt Ortsbürgermeisterin Antje Sölter.
Kennen Sie Beispiele?

Sölter:
In Avendshausen lebt ein Familienvater, der bei einem Verlag in Süddeutschland beschäftigt ist und viel im Homeoffice arbeitet. Er wollte den Ort mit seiner Familie auf keinen Fall verlassen, deshalb musste er sich auf eigene Kosten um eine bessere Internetverbindung kümmern. Der Mann schimpft Mord und Brand – und das kann ich verstehen. Auch ein großer Landwirt hat Probleme, weil er seine Buchführung und andere Geschäftsprozesse online abwickelt. In Avendshausen ist die Internetverbindung so schlecht, dass man keinen Urlaub online buchen kann. Schon gar nicht sonntags, wenn die Kinder vielleicht auch noch Netflix gucken wollen.

Heimüller:
Ich kenne eine Familie, die nach einer beruflichen Station in Hamburg in unsere Gegend zurückkehren wollte. Ursprünglich kommt sie aus Sülbeck und wäre auch gern dorthin zurückgegangen. Der Mann arbeitet jedoch in der IT-Branche und ist auf schnelles Internet angewiesen – das war in Sülbeck einfach nicht gegeben. Aus diesem Grund hat sich die Familie für Salzderhelden entschieden, wo wir zumindest einigermaßen gut versorgt sind.

Woran hapert es in den Ortsteilen noch?


Heitmüller:
Der Denkmalschutz müsste den Mut haben, den Hausbesitzern mehr entgegenzukommen. Mein Vorschlag: Wir schaffen Modelldörfer, in denen wir den historischen Zustand so gut wie möglich erhalten. Und anderswo bekommen die Eigentümer dafür mehr Freiheiten und können auch mal etwas wegreißen. Das wäre besser, als den Denkmalschutz überall ein bisschen zu fördern. In Salzderhelden haben wir aktuell zwei leerstehende Häuser, bei denen dringend etwas passieren müsste. Die Besitzer können sie nicht mehr vermieten und auch nicht zu bezahlbaren Kosten sanieren.  Das Ergebnis: Solche Häuser bleiben stehen, bis sie zusammenfallen - und dann muss oft die Kommune in Vorleistung gehen.

Sölter: Das ist ein berechtigter Punkt. Es kann nicht sein, dass das Dach eines alten Hauses bei der Sanierung mit Original-Ziegeln belegt werden muss. Das kann sich niemand leisten. Um etwas zu erreichen, müssen wir uns aber zumindest im Stadtrat einig sein. Dann könnten wir zum Beispiel eine gemeinsame Petition beschließen, in der wir fordern, das Denkmalschutzrecht in bestimmten Punkten zu lockern. Sicherlich ist es auch sinnvoll, mit dem neuen Bauamtsleiter über den Denkmalschutz zu sprechen.

Fakt ist: Die Bevölkerung schrumpft und Großstädte bleiben für viele attraktiv. Wie realistisch ist die Hoffnung, den Leerstand in den Dörfern zu begrenzen?


Sölter: Natürlich ist das auch ein Wunsch. Aber das Leben auf dem Dorf bietet tatsächlich viele Vorteile. Wenn ich möchte, dann kann ich hier in aller Abgeschiedenheit leben. Oder ich bin in die Nachbarschaft eingebunden und dadurch nicht so anonym wie in einer Großstadt.

Heitmüller: Entscheidend sind die harten Standortfaktoren. Wenn ich keinen Job habe, dann nützt es mir nichts, dass ich in Salzderhelden oder Avendshausen wunderschön leben kann. Ich muss im Bereich Hannover – Göttingen – Kassel eine Arbeit finden.

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