Göttinger WG fördert selbstbestimmtes Leben im Alter

Mit den demografischen Entwicklungen wächst der Bedarf an seniorengerechten Wohnangeboten. Die Göttinger Alten-WG „Am Goldgraben“ gilt überregional als Vorzeigeprojekt. Rund 70 Seniorinnen und Senioren haben seit Gründung 1994 in der Wohngemeinschaft gelebt. Träger ist der Verein Freie Altenarbeit Göttingen e.V. Im Interview erklärt Geschäftsführer Hartmut Wolter das Konzept. Er sagt: „Selbstständigkeit führt dazu, dass die Menschen länger aktiv bleiben und später pflegebedürftig werden. Vor Kurzem kam eine 86-jährige Bewohnerin zu mir und hat gesagt: Wir müssen Spenden sammeln für die Ukraine! Das hat sie dann auch getan.“

Diese Jugendstil-Villa im gefragten Göttinger Ostviertel ist seit 28 Jahren die Heimat der Alten-WG.

Wie ist die Alten-WG entstanden?
In den 1980er Jahren gab es in Göttingen den jüngsten Schulleiter einer Altenpflegeschule in Deutschland. Der hat sich gefragt: Was brauchen Senioren und welche neuen Arbeitsfelder für Altenpflegekräfte können sich daraus ergeben? So ist 1986 der Verein Freie Altenarbeit entstanden, aus dem sich wiederum die Idee einer Alten-WG entwickelte. Die Stadt Göttingen stellte dafür die mittlerweile bekannte Jugendstil-Villa am Goldgraben zur Verfügung - das Haus, in dem wir gerade sitzen. 1994 startete dort die Wohngemeinschaft mit elf Plätzen. Träger ist der Verein Freie Altenarbeit Göttingen.

Was bietet die WG, was es zuhause oder in einer Pflegeeinrichtung nicht gibt?
Bei uns ziehen Menschen ein, die selbstbestimmt leben wollen. Anders als in einem Altenheim gibt es keine festen Verpflichtungen. Wir haben keine Hausordnung und keine Essenszeiten. Falls Pflege gebraucht wird, kann natürlich ein ambulanter Pflegedienst ins Haus kommen. In der Praxis findet das aber kaum statt. Ich behaupte: Die Selbstständigkeit führt dazu, dass die Menschen länger aktiv bleiben und später pflegebedürftig werden. Vor Kurzem kam eine 86-jährige Bewohnerin zu mir und hat gesagt: Wir müssen Spenden sammeln für die Ukraine! Das hat sie dann auch getan. 

„Die Generation der 68er muss wohl erst noch zu uns kommen“

Lebt die WG auch von gegenseitiger Unterstützung?
Ja, ein Beispiel: Im Moment wohnen bei uns fünf Frauen, die ein Auto haben. Die nehmen ihre Mitbewohnerinnen mit, wenn sie zum Einkaufen oder zum Arzt müssen. Ist jemand erkältet ist, dann organisieren die anderen die nötige Entlastung. Und wenn jemand mal länger weg ist, dann leeren die Mitbewohnerinnen selbstverständlich den Briefkasten. Es sind kleine Dinge, die zeigen: Bei uns geht es nicht um Versorgung, sondern um Eigenständigkeit.

Sie sprechen ausschließlich von Bewohnerinnen…
Richtig - zurzeit haben wir eine reine Frauen-WG. Das war auch schon mal anders, doch das Interesse der Männer war immer deutlich geringer. Ich vermute, dass viele ältere Männer das WG-Leben nicht gewohnt sind. Die Generation der 68er muss wohl erst noch zu uns kommen. Auch unser Programm könnte eine Rolle spielen. Der Schwerpunkt ist eher kulturell. Vielleicht wünschen sich ältere Männer eher handwerkliche Aktivitäten.

Hartmut Wolter, Geschäftsführer der Freien Altenarbeit Göttingen e.V.

Wer organisiert das Programm?
Der Verein bietet Veranstaltungen wie Erzählcafés, Schreibworkshops oder Wohnberatungen an. Einige Bewohnerinnen helfen dabei. Grundsätzlich ist das Vereinsprogramm aber unabhängig vom WG-Leben, das die Frauen selbstständig gestalten. In der Corona-Zeit haben beispielsweise drei Bewohnerinnen begonnen, Texte zu schreiben. Eine andere Frau macht regelmäßig Yoga und bietet den anderen Übungs-Zeiten an. Eine weitere Bewohnerin hat inzwischen der ganzen WG Doppelkopf beigebracht hat. Neben dem eigenständigen Leben findet also viel Gemeinschaft statt.

Wie wählen Sie die Bewohnerinnen oder Bewohner aus?

Das macht in erster Linie die WG. Wenn ein Platz frei wird, dann geben wir die Warteliste in die Gemeinschaft. Die Frauen telefonieren die Liste ab und laden diejenigen ein, die zeitnah einziehen möchten. Meist sind das zwischen zwei und sechs Personen. Diese Kandidatinnen kommen vorbei, schauen sich die freien Räume an und überlegen: Passt das für mich? Natürlich muss auch die Chemie stimmen. Am Ende stellt die WG ihr Ranking auf. Die beste Kandidatin wird für einige Tage zum Probewohnen eingeladen. Mit einer Ausnahme haben sich anschließend alle für den Einzug entschieden.

„Das Interesse ist deutlich größer als das Angebot“

Wie groß ist die Nachfrage?
Auf der Warteliste stehen rund 20 Frauen. Grundsätzliches Interesse gibt es aber bei wesentlich mehr Menschen. In meinen acht Jahren als Geschäftsführer gab es bisher sechs Wohnungswechsel. Bislang hatten wir nie Probleme, einen freien Platz zu besetzen. Im Gegenteil: Das Interesse ist deutlich größer als das Angebot. Übrigens ist die Fluktuation erfreulich gering. Zwei Bewohnerinnen sind schon 13 Jahre hier.

Braucht es mehr Wohnprojekte?
Eindeutig ja. Wohnraum ist an vielen Orten sehr knapp und sehr teuer geworden. In anderen niedersächsischen Städten ploppen die Wohnprojekte deshalb bereits aus dem Boden. Auch Göttingen könnte zusätzliche Projekte gut gebrauchen. Ich setze da auf die Zusammenarbeit mit Stadt und Landkreis, die beide das Thema auf der Agenda haben. Es geht dabei nicht nur um Senioren, sondern um generationenübergreifendes Wohnen.

Wie finanziert sich das Projekt am Goldgraben?
Der Verein bestreitet seine Arbeit aus den Beiträgen der rund 150 Mitglieder, aus Zuschüssen, Spenden und Einnahmen aus der Bildungsarbeit. Davon muss man die Alten-WG unterscheiden. Die laufenden Mietkosten für die Wohngemeinschaft finanzieren die Bewohnerinnen.

„Die Rente reicht nicht bei allen Bewohnerinnen aus“
Was kostet es, bei Ihnen zu wohnen?
Die Warmmiete liegt zwischen 500 und 600 Euro im Monat. Die genaue Höhe hängt von der Größe des Apartments ab – jeder Bewohnerin stehen 30 bis 45 Quadratmeter mit Bad und kleiner Küche zur Verfügung. In der Warmmiete ist auch eine Umlage für die Gemeinschaftsräume enthalten. Dazu zählen Gemeinschaftsküche, Wohnzimmer und Esszimmer. Außerdem zwei Gästezimmer, in denen Angehörige und Freunde übernachten können.

Ist das Leben am Goldgraben für alle bezahlbar?

Das ist unser Ziel. Allerdings reicht die Rente nicht bei allen Bewohnerinnen aus. In diesen Fällen klappt die Finanzierung über das Wohngeld oder andere Zuschüsse. Außerdem gibt es einen sehr solidarischen Umgang innerhalb der WG. Es gibt eine Gemeinschaftskasse für gemeinsame Anschaffungen. In diese Kasse zahlt jede Frau den Betrag ein, den sie sich leisten kann.

Was würden Sie raten, wenn jemand ein vergleichbares Projekt starten will?

Als Grundlage muss zunächst eine Gruppe mit gemeinsamen Interessen und einer gewissen Verbindlichkeit da sein. Ist das der Fall, kann man weiter planen: Wo wollen wir wohnen? Welche Immobilie passt zu uns? Und in welcher Rechtsform wollen wir uns organisieren? Als Genossenschaft? Als Verein? Als GbR? Diese Fragen müssen früh beantwortet werden, weil es ohne juristische Organisationsform keine Fördermittel gibt. Von der Idee bis zum Wohnprojekt dauert es in der Regel fünf bis sieben Jahre. Wenn man sich schnelle Fortschritte wünscht, sollte man sich eine externe Moderation leisten. Das hilft dabei, Konflikte zu enthaken. Außerdem ist es sinnvoll, Verwaltungsangelegenheiten auszulagern. Macht ein Bewohner beispielsweise die Abrechnungen, führt das leicht zu Konflikten. Bei all diesen Themen bieten wir Beratungen an. Das zweite zentrale Thema ist die Gemeinschaft selbst. Es ist ja nicht alles Wolkenkuckucksheim, wenn man zusammen wohnt.

Was meinen Sie?
In jeder WG gibt es viele Konflikte. Nähe und Distanz müssen ausgehandelt werden. Man muss ständig an sich, aber auch an der Gruppe arbeiten. Darüber müssen sich die Menschen klar sein, die zusammen wohnen wollen.

Mehr Informationen gibt es unter freiealtenarbeitgoettingen.de.

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