„Frust und Strukturschwäche geben Rechtspopulisten Auftrieb“

Strukturschwäche und demografischer Wandel können den Aufstieg rechter Parteien wie der AfD fördern – das besagt die Studie „Abgehängt im Aufschwung“ über die Entwicklung Ostthüringens seit der Wende. Mitautorin Sarah Hinz ist Arbeitssoziologin und promoviert an der Universität Jena. Im Interview spricht sie über das Umfragehoch der AfD, Abstiegsängste und Lehren für die demokratischen Parteien. Zur Untersuchungsregion Ostthüringen gehören Gera sowie die Landkreise Greiz und Altenburger Land. Am 1. September wird in Thüringen ein neuer Landtag gewählt. Bereits Ende Mai finden Kommunalwahlen statt. 

Teils in morbidem Zustand: der Geraer Stadtteil Lusan. „Die meisten Treffpunkte in ehemaligen Arbeitervierteln wurden geschlossen“, sagt Forscherin Sarah Hinz. 

In Ostthüringen hat die AfD schon bei den letzten Wahlen weit überdurchschnittliche Erfolge erzielt. Wie erklären Sie sich die besondere Anziehungskraft?
Zunächst einmal: Das Problem betrifft nicht nur Ostthüringen - Rechtspopulisten werden auch im Westen stärker. Was unsere Untersuchungsregion unterscheidet ist, dass sie seit 1990 einen massiven demografischen Wandel und gleichzeitige Peripherisierung erlebt hat. Vor allem Hochqualifizierte und überdurchschnittlich viele Frauen haben Ostthüringen in zwei großen Wellen verlassen. Gera gilt heute als abgehängte Stadt, während sich das benachbarte Jena zu einem Leuchtturm innerhalb Ostdeutschlands entwickelt hat. 

„Wirtschaftlich erfüllen viele Unternehmen Ostthüringens die Rolle einer verlängerten Werkbank“

Was heißt das im Alltag?
Zu DDR-Zeiten war Gera ein wichtiger Punkt auf der Landkarte – heute hält dort nicht einmal ein ICE. Die meisten Treffpunkte in ehemaligen Arbeitervierteln wurden geschlossen. Wirtschaftlich erfüllen viele Unternehmen Ostthüringens die Rolle einer verlängerten Werkbank – mit geringer Tarifbindung und schlechten Arbeitsbedingungen.

In der DDR galt Gera als wichtiges Bezirks-Zentrum – inzwischen ist das nahe Jena längst vorbeigezogen.

Wie schlecht?
In Industriebetrieben kann man nach Daten von 2018 typischerweise Löhne von 1.500 bis 1.600 Euro netto bei Vollzeitbeschäftigung verdienen, inklusive Schichtzulagen. Davon kann man in Ostthüringen leben, aber auf niedrigem Niveau. Gleichzeitig sind viele Belegschaften überaltert, Nachwuchs fehlt. Um die Aufträge zu schaffen, sind die Unternehmen auf Leiharbeiter angewiesen. Viele von ihnen kommen nicht einmal mehr aus der Region, sondern aus Tschechien, aus der Slowakei, auch Geflüchtete aus Syrien sind darunter. Bei den Beschäftigten gibt es dagegen starke Vorbehalte. Oft haben wir eine Art Nützlichkeitsrassismus vorgefunden. Die Syrer werden toleriert, solange sie helfen, die Arbeit zu erledigen.

Rechtsextremisten sind stark, wo Abstiegsängste herrschen. Welche Rolle spielt das in Ostthüringen?
Die Abstiegsängste sind da – etwa als Sorge um den Arbeitsplatz. Allerdings sind diese Befürchtungen häufig ohne Substanz. Der Ausländeranteil in Ostthüringen ist gering. Die Menschen nehmen also eine „Überfremdung“ wahr, die sich in Zahlen nicht widerspiegelt. Faktisch gefährden Zuwanderer nicht die Jobs der Einheimischen, sondern sind nicht selten sogar die einzige Chance, den Fach- und Arbeitskräftemangel zu mildern. Politisch sehen wir eine weit verbreitete Fundamentalkritik ohne konkreten Adressaten.

Trist: Plattenbau in Gera-Lusan.

Wie schafft es die AfD, die Ängste für sich zu nutzen?
Sie verfolgt die typische Strategie von Populisten: Komplexität ausblenden, einfache Antworten postulieren, die Schuld nach oben und unten verteilen. Einige derjenigen, die heute mit der AfD sympathisieren, haben einst die Linke gewählt. Sie wollen „denen da oben“ einen Denkzettel verpassen, weil sie immer wieder enttäuscht wurden. Das heißt nicht unbedingt, dass sie das AfD-Programm unterstützen oder es überhaupt im Detail kennen. 

„Für die etablierten Parteien wird es schwierig, die letzten 20 Jahre zurückzudrehen“

Das fällt schwer zu glauben bei Thüringen-weiten Umfragewerten um 30 Prozent…
Demografischer Wandel und räumliche Peripherisierung spitzen sich weiter zu und damit auch das Gefühl, abgehängt zu sein. Das kann zur Radikalisierung beitragen. Frust und Strukturschwäche geben Rechtspopulisten Auftrieb. Gleichzeitig ist die AfD viel gesellschaftsfähiger als früher beispielsweise die NPD. Sie tritt bürgerlicher auf. Man kann öffentlich sagen, dass man die AfD unterstützt, ohne großen Widerspruch zu erleben. Seit den Enthüllungen über das Treffen in Potsdam wird die Partei aber vermutlich wieder stärker in der rechtsnationalen Ecke wahrgenommen. 

Wie müsste ein Politikangebot aussehen, das Stimmen von der AfD zurückgewinnt?
Gute Chancen scheint im Moment das Bündnis Sahra Wagenknecht zu haben, weil es vermeintlich ein Vakuum im Parteienspektrum füllt. Die Partei könnte Menschen ansprechen, die sich einen starken Sozialstaat wünschen und zugleich Migration eher ablehnend gegenüberstehen. Für die etablierten Parteien wird es schwierig, die letzten 20 Jahre zurückzudrehen. Das würde in Ostthüringen eine große strukturpolitische Anstrengung erfordern. Ich bin wirklich gespannt, wie sich die jüngsten Demokratie-Demonstrationen bei den Landtagswahlen auswirken.

Die Studie:
„Abgehängt im Aufschwung – Demografie, Arbeit und rechter Protest in Ostdeutschland“ ist 2021 im Campus-Verlag erschienen. Die Autorinnen und Autoren untersuchen den Zusammenhang zwischen Wirtschaftsschwäche, Infrastrukturabbau, Stigmatisierung und der Wahl rechtsradikaler Parteien. Zur Untersuchungsregion Ostthüringen gehören Gera sowie die Landkreise Greiz und Altenburger Land.

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