Gera – mutig im Kampf gegen Rechts?

Vor dem schmucken Geraer Theater machen sich Demonstranten zum Marsch durch die Dunkelheit bereit. Einige Hundert mögen es sein. Die Forderung nach „Frieden“ tragen sie vor sich her - aber Fahnen und Lieder lassen keinen Zweifel daran, dass es hier in Wahrheit gegen die Demokratie geht. „Montagsdemo. Das habe ich schon öfter erlebt“, sagt ein Mann auf der Terrasse eines nahen Lokals. Jede Woche geht das hier so. Die Rechten nehmen die Innenstadt in Besitz. Und wer nicht los muss, bleibt sicherheitshalber wo er ist. Ist Gera deshalb eine gefallene Stadt? Wie das ARD-Magazin Kontraste vor einigen Wochen fragte? Gegen diese Sichtweise wehren sich viele in Gera vehement. Und führen damit eine doppelte Auseinandersetzung – gegen die Rechtsextremen und gegen empfundene Vorurteile. 

Aufruf zur Kundgebung: 250 Menschen kamen kurz vor Ostern in Gera zusammen, um sich gegen die AfD zu wehren – und den schlechten Ruf der Stadt. 

250 Menschen versammelten sich etwa kurz vor Ostern auf dem Markt zur Demo gegen Rechts. Sie wollten ein Zeichen setzen gegen die Aufmärsche. Es gab aber auch Kritik am Fernsehbeitrag. „Wir sind weder eine verlorene, eine Loser- oder eine gefallene Stadt“, sagte Oberbürgermeiner Julian Vonarb (parteilos) laut Lokalzeitung in einer Grußbotschaft.

Allerdings: Dass Gera weit rechts wählt, ist nicht zu bestreiten. Knapp 29 Prozent stimmten bei der letzten Stadtratswahl 2019 für die AfD. Der Verfassungsschutz stuft den Thüringer Landesverband um Björn Höcke inzwischen als erwiesen rechtsextremistisch ein. 

Immer wieder montags in Gera: rechter Marsch durch die Innenstadt. 

Ein Forscherteam hat das Phänomen der weit überdurchschnittlichen AfD-Erfolge untersucht – und glaubt eine Erklärung gefunden zu haben: Ostthüringen, mit Gera im Zentrum, hat sich zur abgehängten Region entwickelt. Während Deutschlands Wirtschaft expandierte und das nahe Jena aufblühte, wuchsen in Ostthüringen schon seit den 90er Jahren die Probleme: wirtschaftliche Abhängigkeit, schlechte Infrastruktur, Abwanderung junger Arbeitskräfte. Dazu der Stempel der Verlierer-Region. 

Verlängerte Werkbank – mit schlechten Arbeitsbedingungen

Arbeitssoziologin Sarah Hinz, Mitautorin der Studie, sagt: „Zu DDR-Zeiten war Gera ein wichtiger Punkt auf der Landkarte – heute hält dort nicht einmal ein ICE. Die meisten Treffpunkte in ehemaligen Arbeitervierteln wurden geschlossen. Wirtschaftlich erfüllen viele Unternehmen Ostthüringens die Rolle einer verlängerten Werkbank – mit geringer Tarifbindung und schlechten Arbeitsbedingungen.“ In dieser Situation sei es für die AfD einfach, Abstiegsängste für sich zu nutzen und mit vermeintlich einfachen Antworten zu punkten. „Frust und Strukturschwäche geben Rechtspopulisten Auftrieb“, so Hinz.

Plattenbau an Plattenbau – und immer weniger Infrastruktur: Der Stadtteil Lusan gehört zu den Verlierern der Nachwende-Zeit.

Für Geras Abstieg steht kein Stadtteil so sehr wie Lusan, das Plattenbau-Viertel im Süden. An einem kühlen Frühlingsmorgen steigt dort eine ältere Dame mit einer Tüte Bücher aus der Straßenbahn. Was sie liest? „Reise und Familie. Ein bisschen heile Welt“, sagt sie. Seit Wochen schmerzt ihr Fuß, aber den Weg in die Stadtteilbücherei nimmt sie auf sich. „Gut, dass es die Bibliothek noch gibt. Die stand ja auch mal auf der Kippe.“

AfD-Aussteigerin und Thilo Sarrazin

Kurz nach Öffnung stöbern in der Bücherei schon die ersten Besucher. Ältere Geraer schauen in Romane und Krimis, eine Kita-Gruppe verlängert Leihfristen. Im Geschichtsregal stehen mehrere Bände von Thilo Sarrazin, den die SPD nach Rassismus-Vorwürfen aus der Partei ausschloss. Direkt daneben: „Inside AfD“ von Franziska Schreiber. Darin beschreibt die Aussteigerin, wie der radikale Flügel um Höcke die Partei immer weiter nach rechts rückt. In der Leseecke mit Blick auf einen Spielplatz liegen Zeitungen bereit. Dazu gibt es Cappuccino für 40 Cent. 

Wer gut zu Fuß ist, kann von Lusan in einer Stunde ins moderne Stadtzentrum laufen. Der Weg führt vorbei an Wohnblocks, Discountern und noch mehr Wohnblocks. Von weitem gibt frische Farbe den Häusern ein freundliches Bild. Aus der Nähe werden renovierungsbedürftige Fassaden und leere Wohnungen sichtbar. 

Geraer Stadtzentrum: nur einen Spaziergang von Lusan entfernt – doch optisch eine andere Welt.

Leere Wohnungen – das liegt in Gera nicht nur am Plattenbau, sondern auch an der Demografie. „Vor allem Hochqualifizierte und überdurchschnittlich viele Frauen haben Ostthüringen in zwei großen Wellen verlassen“, sagt Forscherin Hinz. Allein seit der Jahrtausendwende ist die ehemalige Bezirksstadt der DDR von 114.000 auf 94.000 Menschen geschrumpft. 30 Prozent der Einwohner sind heute 65 Jahre alt oder älter. 

Oberbürgermeister Julian Vonarb fordert „Sachpolitik über Parteigrenzen hinaus“. Foto: Stadt Gera

Oberbürgermeister Vonarb glaubt, dass das Schlimmste hinter Gera liegt – zumindest wirtschaftlich. Er verweist auf Erfolge bei Beschäftigung und Kaufkraft, der Weg aus der Strukturschwäche sei geebnet. Probleme sieht der OB dagegen in der Politik. Bei der Aufnahme von Geflüchteten sei die „Belastungsgrenze überschritten“. Generell sei ein großer Teil der Bevölkerung unzufrieden mit Landes- und Bundesebene. Vonarbs Forderung: mehr „Sachpolitik über Parteigrenzen hinaus“. Am 26. Mai tritt er zur Wiederwahl an – gegen Konkurrenten von AfD und CDU. 

Gera - also keine gefallene Stadt? Auf einem Plakat haben sie den Spruch schon handschriftlich abgewandelt: „Gera ist eine mutige Stadt“ steht dort jetzt. Mutig: Das kann zum Beispiel den Buchhändler im Zentrum meinen, der im Schaufenster mit einem Regenbogen-Plakat für Toleranz und Vielfalt wirbt. Wohlwissend, dass jeden Montag die Rechten an seinem Geschäft vorbeiziehen. 

Werbung für Toleranz: Plakat im Schaufenster einer Buchhandlung.

Auch das Theater, Startpunkt der Demos, wirbt über dem Eingang für ein „weltoffenes Thüringen“. Generalintendant Kay Kuntze warnt vor einer Regierungsbeteiligung der AfD – und fordert zugleich Gesprächsbereitschaft mit ihren Sympathisanten. Kuntze: „Wir müssen AfD-Wähler reinholen in den Dialog. Ein Konzert zum Beispiel ist eine schöne Vielfalts-Erfahrung. Da spielen 60 Musiker unterschiedliche Instrumente, jeder hat eine eigene Sprache, und trotzdem machen sie zusammen Musik. In der Pause kommt man zwangsläufig ins Gespräch.“

Schmucker Bau: das Geraer Theater.


Mehr zum Thema:

„Frust und Strukturschwäche geben Rechtspopulisten Auftrieb“
(Interview mit Arbeitssoziologin Sarah Hinz)

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