„Gefragte Arbeitskräfte werden nicht auf Südniedersachsen aufmerksam“

Vielen Unternehmen fehlt es schon heute an Arbeitskräften – und die beginnende Ruhestandswelle der geburtenstarken Jahrgänge dürfte die Probleme weiter verschärfen. Südniedersachsen setzt deshalb auf verbessertes Fachkräftemarketing, um mehr Beschäftigte von außerhalb zu gewinnen. Der Europäische Sozialfonds fördert ein Projekt zur Entwicklung einer regionalen Strategie noch bis Juni 2022 mit insgesamt 124.000 Euro. Die Kofinanzierung leisten die Landkreise Göttingen und Northeim sowie die Südniedersachsen-Stiftung. Benjamin Schulze von der Südniedersachsen-Stiftung über Fortschritte und Probleme. 

Blick nach Göttingen: Die Universitätsstadt gilt als attraktives Zentrum Südniedersachsens. Doch beim gemeinsamen Werben um Fachkräfte kommt die Region nur mühsam voran. Foto: Richard/Pixelio

Im Sommer endet der Projektzeitraum für ein gemeinsames Fachkräftemarketing in Südniedersachsen. Wie ist der Stand?
Wir haben die vergangenen beiden Jahre genutzt, um Akteure aus Kommunen und Wirtschaft zu vernetzen und die Stärken der Region herauszuarbeiten. Das Projekt hat seither bestehende Aktivitäten, Projekte und Best Practices innerhalb sowie außerhalb der Region erfasst und analysiert. Über Workshops, Gespräche und Veranstaltungen wurden regions- und bedarfsgerechte Maßnahmen identifiziert und skizziert. Ich bin optimistisch, dass die angekündigte Strategie bis zum Sommer steht. Die praktische Umsetzung beginnt allerdings erst danach. Ein gemeinsames Online-Portal, das Südniedersachsen dringend braucht, kann beispielsweise erst entstehen, wenn die Finanzierung gesichert ist.

Angesichts der Probleme müsste die Region schon heute Vollgas geben. Reicht das Tempo aus?
Ich kann leider nicht sagen, dass wir immer mit Höchstgeschwindigkeit unterwegs sind. Der Wettbewerb mit Metropolen wie Hamburg oder Berlin ist als vorwiegend ländlich geprägte Region ohnehin schwer zu gewinnen. Aber auch im Vergleich der ländlichen Gebiete muss Südniedersachsen besser werden. Viele Regionen, im Osten wie im Westen, haben große Fortschritte gemacht und bauen ihren Vorsprung weiter aus. Da müssen wir mithalten und mehr noch: besser sein. Selbst große Arbeitgeber haben es heute oft schwer, Menschen nach Südniedersachsen zu holen. Neben strukturellen Faktoren spielen wir zu wenig unsere Standortstärken aus. Es fehlen gemeinsame Marketingmaßnahmen. Wenn Unternehmen dann Niederlassungen an anderen Standorten eröffnen, ist das ein Alarmsignal, das wir nicht übersehen sollten. 

„Kleine und mittlere Unternehmen stehen vor einem Dilemma“

Bringt das regionale Welcome Centre nicht die erhofften Erfolge?
Das Welcome Centre ist ein wichtiges Instrument zur Unterstützung der hiesigen Unternehmen, um Fach- und Führungskräfte besser in der Region ankommen zu lassen. Allein 2021 haben wir so rund 130 Personen begleitet. Aufgrund der guten Auftragslage haben wir jüngst unser Team verstärkt. Ein Welcome Centre ist aber kein Alleinstellungsmerkmal. Vergleichbare Einrichtungen gibt es in vielen Regionen. Unser Welcome Centre kommt erst dann ins Spiel, wenn die neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihren Arbeitsvertrag unterschrieben haben. Das Hauptproblem ist ein anderes: Gefragte Arbeitskräfte werden erst gar nicht auf Südniedersachsen aufmerksam. Gerade die kleinen und mittleren Unternehmen stehen dadurch vor einem Dilemma: Für intensive Mitarbeitersuche im Ausland fehlt ihnen das Personal. Sie können professionelle Recruiter beauftragen – doch das ist teuer. Rund 10.000 Euro kostet beispielsweise die Vermittlung einer Fachkraft in der Pflege.

Benjamin Schulze: „Wir müssen unser Handeln stärker an potenziellen Neubürgern ausrichten.“
Foto: Südniedersachsen-Stiftung

Wie kann die Region sichtbarer werden?
Das angesprochene Online-Portal wäre ein wichtiger Schritt für eine gemeinsame Vermarktung. Stellen Sie sich vor, eine junge Spanierin informiert sich über Arbeitsmöglichkeiten in Deutschland: Sie findet Anlaufstellen vieler Regionen – doch Südniedersachsen ist nicht dabei. 

Mit welchen Argumenten kann Südniedersachsen punkten?
Südniedersachsen ist ein fantastischer Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort mitten in Europa. Bei uns gibt es allein vier Hochschulen und etliche attraktive Arbeitgeber – vom innovativen Handwerksbetrieb über das inhabergeführte Industrieunternehmen bis hin zum Global Player. Zugleich ist die Region enorm vielfältig – mit abwechslungsreichen Landschaften vom Harz bis zur Weser. Hinzu kommen kulturelle Angebote und touristische Anziehungspunkte wie die Fachwerkstädte. Wir stehen anderen Regionen in nichts nach.

„Viele bleiben lieber im Speckgürtel eines Ballungsraums wohnen“ 

Trotzdem funktioniert die gemeinsame Vermarktung noch nicht. Wo liegen die strukturellen Ursachen?
Es gibt mehrere Themen, die immer wieder auf den Tisch kommen. Erstens: Wer gehört zu Südniedersachsen? Wir sind überzeugt, dass wir die Landkreise Göttingen, Northeim, Holzminden, Goslar und die Stadt Göttingen als attraktive Großregion vermarkten müssen, um international konkurrenzfähig zu sein und wahrgenommen zu werden. Zweitens: Welche Rolle spielt die Stadt Göttingen als einziges Oberzentrum und  Universitätsstadt im Verhältnis zum Umland? Drittens: Wer ist für die Vermarktung der Region verantwortlich? Die Kommunen? Die Wirtschaft? Bei all diesen Fragen hat sich noch kein Konsens gebildet, was die Finanzierung gemeinsamer Investitionen erschwert. Südniedersachsen braucht ein stärkeres Regionalbewusstsein. 

Viele hoffen, dass Corona den Trend zum Landleben stärkt. Kommen Großstädter bald von alleine nach Südniedersachsen?
Ich befürchte, so einfach ist es nicht. Sicherlich liegen Nachhaltigkeit und Landleben im Trend. Aber viele bleiben dann doch lieber im Speckgürtel eines Ballungsraums wohnen. Um das zu ändern, müssen wir unser Handeln stärker an den Interessen potenzieller Neubürger ausrichten. Das gilt zum Beispiel beim schnellen Internet. Wir brauchen den flächendeckenden Ausbau – sonst ist ein Umzug nach Südniedersachsen für viele nicht attraktiv.

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