„Ein Leben auf dem Land wird wieder attraktiver“

Claudius Weisensee ist der dritte Bewerber um das Amt des Einbecker Bürgermeisters. Der 40-jährige Verwaltungsjurist tritt für die FDP an. Im schriftlich geführten Interview erklärt er, wie er mit den Herausforderungen des demografischen Wandels umgehen will. Er plädiert für ein Bürgerbüro im Alten Rathaus, Krippengruppen in umgebauten Geschäften und eine freiwillige Dienstzeitverlängerung älterer Verwaltungsmitarbeiter. Zudem macht er sich für eine Gemeindefusion mit Dassel stark und setzt auf den Zuzug von Familien, Fachkräften und Rückkehrern.

Will Chef im Einbecker Rathaus werden: Claudius Weisensee (FDP). Foto: privat

 
Leerstand und Wohnen:

Was würden Sie als Bürgermeister gegen den Leerstand in der Einbecker Innenstadt unternehmen?
Als unmittelbar wirkende Maßnahme schlage ich vor, sämtliche öffentliche Dienstleistungen der Stadtverwaltung auch in der Innenstadt anzubieten. Denn durch die Zentrierung sogenannter Nutzungen des Alltags in der Innenstadt, wie zum Beispiel Bürgerbüro, Bauamt oder Kitas, die regelmäßig von Menschen angesteuert werden müssen, wird für eine stärkere Frequentierung der Einbecker Innenstadt gesorgt. Dafür kann das Alte Rathaus auf der Rückseite zum Hallenplan barrierefrei ausgebaut werden. Das gemeindliche Vorkaufsrecht kann ebenfalls ein interessantes Instrument sein, um zum Verkauf angebotene (Laden-)Flächen aufzukaufen und günstig an kleine Manufakturen, Start-ups oder private soziale Einrichtungen zu vermieten. Mittelbar wirken häufigere Straßenreinigungen in der Innenstadt und ein ansprechendes Mobiliar. Denn Sauberkeit und optischer Liebreiz steigern die Attraktivität der Innenstadt und machen den Einkaufsbummel in Einbeck zu einem angenehmen Erlebnis.   

Ein Bürgerbüro in der Innenstadt schlägt Claudius Weisensee vor: „Dafür kann das Alte Rathaus auf der Rückseite zum Hallenplan barrierefrei ausgebaut werden.“

Muss sich die EWG stärker für die Nutzung von Fachwerkhäusern engagieren?
Als Tochtergesellschaft der Stadt sollte sie natürlich in die strategischen Überlegungen und Ziele der Stadt eingebunden sein. Hierzu gehören der Erhalt und die Weiterentwicklung der historischen Bausubstanz. Das Know-how der EWG auch unter Berücksichtigung von Förderprogrammen zu nutzen, ist sicherlich sinnvoll. Ich habe in Einbeck selbst in einem Fachwerkhaus in der Innenstadt und einem Fachwerkhaus in Immensen zur Miete gewohnt und das individuelle Wohnerlebnis in einem schnuckeligen, gemütlichen und fast märchenhaften Haus sehr geschätzt. Deshalb kann ich das Wohnen in Fachwerkhäusern mit voller Überzeugung empfehlen. Die Einzigartigkeit und das Potenzial des Wohnens in Fachwerkhäusern kann mit Hilfe der EWG bestimmt vielen Zuzugswilligen näher gebracht werden.

Was würden Sie gegen den Verfall alter Ortskerne tun?
Die historischen Ortskerne bilden die Identität unserer Dörfer. Das Zauberwort heißt Instandhaltung, Instandhaltung, Instandhaltung. Dort, wo das über Jahre und zum Teil Jahrzehnte versäumt wurde, haben wir Probleme mit verfallender Bausubstanz und/oder einen erheblichen Modernisierungsstau. Und hier müssen die Regelungen des Baurechts und des Denkmalsschutzes Engagement von Eigentümern ermöglichen statt es zu verhindern oder schwer zu machen. Nutzungen müssen hinterfragt werden. Warum diskutieren wir in einem dörflichen Ortskern mit schnellem Internet nicht mal über die sehr günstige Ansiedlung eines Coworking-Spaces, in dem sich Gründerinnen und Gründer entfalten können? Voraussetzung dafür ist natürlich schnelles Internet überall. 

Wie viele Neubaugebiete verträgt die Stadt – und wo?
Noch ist es zu früh, einen allgemeinen Trend zu erkennen. Aber es deutet einiges darauf hin, dass es in den kommenden Jahren zu einer Stadtflucht kommen wird. Dazu hat natürlich Corona beigetragen. Ich weiß wovon ich rede. Über Wochen saßen wir in der Zeit des Lockdowns in unserer Wohnung ohne Balkon im Zentrum Karlsruhes. Da wächst die Sehnsucht nach dem Land. Auch deshalb möchte ich nach Einbeck zurückkehren. Zum Glück ist es heutzutage in vielen Berufen nicht mehr so wichtig, dass Wohnen und Arbeiten in räumlicher Nähe zueinander stattfinden. Das steigert die Attraktivität der ländlichen Regionen. Einbeck wird davon profitieren, wenn es für Zuzugswillige ansprechende Angebote bereithält. Nicht jeder möchte in einem Fachwerkhaus oder in einem anderen Altbau wohnen. Viele schätzen die Modernität und den Komfort eines Neubaus oder wollen sich architektonisch selbst verwirklichen. Dafür braucht es Neubaugebiete. Die können überall dort entstehen, wo Flächen bereitstehen, die unproblematisch erschlossen werden können. Eine Festlegung auf bestimmte Ortschaften oder gar die Kernstadt wäre falsch. Vielmehr sollte die Ausweisung der Neubaugebiete dem Bedarf folgen. Aus Vardeilsen, wohin ich gerne auch wieder zurückziehen möchte, weiß ich beispielsweise, dass ein Bedarf besteht.
 

Familienfreundlichkeit:

Wie lässt sich aus Ihrer Sicht die Kinderbetreuung verbessern?

Die Frage beschäftigt Pädagogen, Erziehungswissenschaftler, Soziologen und Verwaltungsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter in den Rathäusern seit Jahrzehnten. Die Stadt Einbeck kann - soweit möglich - dem Rat der Expertinnen und Experten folgen und in die Ausstattung der Kitas investieren. Dazu gehört auch die Digitalisierung. Wobei mir wichtig ist, dass nicht die Kinder digitalisiert werden, sondern die Kita. Kinder kommen bereits außerhalb der Kita früh genug mit Tablet, Handy und Co. in Berührung und sollen in der Kita erst einmal lernen, von Angesicht zu Angesicht zu kommunizieren und miteinander zu spielen, um soziale Fähigkeiten zu erlernen. Die Erzieherinnen und Erzieher selbst benötigen aber eine technische Ausstattung, die ihre Arbeit erleichtert. Beispielsweise können in einer datensicheren Cloud Entwicklungssheets zu einem Kind abgelegt und zeitgleich sowie unabhängig voneinander bearbeitet werden, ohne dass noch Zettel ausgefüllt werden müssen. Personell würde eine dritte Kraft in den Kita-Gruppen sicher einen Qualitätssprung bedeuten. Letzteres muss aber auf Landesebene entschieden werden.  

Sch(l)aufenster in der Marktstraße: Ungenutzte Geschäftsräume könnten nach Ansicht von Claudius Weisensee für zusätzliche Krippenplätze umgebaut werden.

Braucht es Neubauten, um mehr Krippenplätze zu schaffen?
Der Bedarf nach Krippenplätzen ist da. Für die Schaffung von Krippenplätzen sollten leerstehende Läden in der Innenstadt umgenutzt werden, um gleichzeitig die Innenstadt zu beleben und Leerständen entgegenzuwirken. Neubauten braucht es nicht.


Verwaltung:

Das Neue Rathaus steht vor einer Ruhestandswelle. Wie kann die Stadtverwaltung die personellen Lücken schließen?

Der öffentliche Dienst steht in Konkurrenz zur privaten Wirtschaft. In Zeiten der Krise reift aber auch bei vielen jungen Menschen die Erkenntnis, dass ein sicherer Arbeitsplatz ein Wert an sich ist, der vielleicht ein höheres Gehalt aufwiegen kann. Das ist einer der Vorteile der Arbeit in der Stadtverwaltung. Trotzdem wird es nicht mehr reichen, nur eine Stellenausschreibung auf der eigenen Homepage und in der Einbecker Morgenpost und der Eule zu veröffentlichen. Die Stadt muss aktiv auf sozialen Netzwerken wie Xing, Facebook, Instagram etc. in einer jugendgerechten Sprache um den Verwaltungsnachwuchs werben und die Vorteile einer Tätigkeit in der Verwaltung herausstellen. Neben der Krisenfestigkeit des Jobs gehören die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, eine auskömmliche Altersversorgung, Fortbildungschancen und eine gute Work-Life-Balance dazu. Ich setze mich außerdem gerne mit den älteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Verwaltung zusammen, um über mögliche Modelle für eine freiwillige Verlängerung der Dienstzeit zu sprechen. Denn ihre Erfahrung ist von unschätzbarem Wert für die Stadtverwaltung. Die möchte ich ungern verlieren. 

Im Neuen Rathaus stehen viele Mitarbeiter vor dem Ruhestand - FDP-Kandidat Claudius Weisensee möchte sie zum Bleiben bewegen.

Wie würden Sie die Verwaltung aufstellen, damit die Beschäftigten mehr Kapazitäten für die Arbeit an Zukunftsthemen haben?
Dienst in der Verwaltung ist nicht immer nur die Arbeit an Zukunftsthemen. Manchmal müssen auch Bußgeldbescheide für Hundebesitzer erlassen werden, die die Hinterlassenschaften ihrer Tiere nicht beseitigen, Grünflächen gemäht oder Personalausweise ausgestellt werden. Gerade die alltägliche Arbeit der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes sorgt dafür, dass in Deutschland Rechtssicherheit und Verlässlichkeit herrschen. Das ist ein echter Standortvorteil für Deutschland und natürlich auch für Einbeck im Speziellen. Die Kolleginnen und Kollegen, die das Rückgrat der Verwaltung bilden, brauchen vor allem eine adäquate personelle und logistische Ausstattung, um ihre vermeintlichen Routineaufgaben gut und mit Freude an der Arbeit erledigen zu können. Umgekehrt benötigen diejenigen, die gerade für Kreativarbeit eingestellt worden sind, eine Entlastung bei den Routineaufgaben. Ein Stadtplaner soll Pläne zeichnerisch und textlich erstellen, sollte aber keine Kopien für Ausschussmitglieder oder Ähnliches erstellen müssen. Nicht zuletzt zeigt meine Erfahrung, dass zu enge Zeitvorgaben kreatives Denken hemmen und die Fehleranfälligkeit erhöhen. Lieber gebe ich den Mitarbeitern mehr Zeit, sorge bei ihnen für weniger Stress und damit für mehr Freude bei der Arbeit und erhalte im Gegenzug dafür ein qualitativ hochwertiges Ergebnis. Wichtige Aufgaben wie die Ansiedlung von Wirtschaftsunternehmen und die Begleitung von Gründungen sind natürlich Chefsache. Wrtschaftsförderung, Veranstaltungsorganisation und Tourismusförderung sollten in einer Hand liegen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollten vom Bürgermeister den vollen Rückhalt bei allen ihren Entscheidungen, gleichzeitig aber auch klare und eindeutige Vorgaben vom Chef erhalten, die ihnen Sicherheit für die Bewältigung von Zukunftsaufgaben geben. Denn am Ende trägt immer der Bürgermeister die Verantwortung. Nach außen wird er immer die Entscheidungen seines Teams stützen und lediglich intern konstruktive Kritik üben.

Zukunft:

Die Corona-Krise belastet den städtischen Haushalt. Wo würden Sie kürzen – und wo nicht?
In Krisenzeiten zu kürzen wäre fatal. Das würde die Abwärtsbewegung verstärken. Antizyklische Finanzpolitik erfordert gerade jetzt Investitionen. Nach Beendigung der Krise muss dann aber wieder zu einer schwarzen Null zurückgekehrt werden.
 
Wie wollen Sie bei sinkenden Einwohnerzahlen mit teurer Infrastruktur wie den Dorfgemeinschaftshäusern umgehen?

In der Corona-Zeit muss das Raumangebot der Dorfgemeinschaftshäuser bestehen bleiben. Denn es werden spätestens in der Mitglieder- und Jahreshauptversammlungssaison Engpässe entstehen. Die Prämisse, dass die Einwohnerzahl zwangsläufig sinken wird, kann ich nicht teilen. Corona hat es gezeigt: Ein Leben auf dem Land wird wieder attraktiver. Die Digitalisierung wird diesen Trend verstärken, wenn erst einmal alle Dörfer an schnelles Internet angeschlossen sind.

Blick nach Dassel - Claudius Weisensee betrachtet die Nachbarstadt als guten Fusionspartner.

Müssen nach dem Zusammenschluss mit Kreiensen weitere Gemeindefusionen folgen?
Ich halte eine Fusion mit der Stadt Dassel für sinnvoll. Denn Dassel und Einbeck verbindet historisch die gemeinsame Zugehörigkeit zum Altkreis Einbeck. Dassel ist wirtschaftlich gesund. Trotzdem können die wichtigen Zukunftsaufgaben am besten gemeinsam bewältigt werden bei geringeren Gesamtkosten der Verwaltung. Damit dennoch Entscheidungen weiterhin vor Ort getroffen werden können, bin ich für eine Stärkung der Eigenverantwortung der Ortsräte.  

Was liegt Ihnen beim Umgang mit dem demografischen Wandel sonst noch am Herzen?
Mir liegt am Herzen, die Diskussion umzudrehen. Raus aus der Defensive. Schrumpfungsplanung, Leerstandsmanagement und das Ausloten von Einsparpotenzialen sind wichtig. Viel wichtiger ist es aber, dafür zu arbeiten, dass der Wandel für Einbeck einen Zuzug von Familien und Fachkräften sowie von Rückkehrern bringt. Meine Perspektive für 2030 sieht so aus, dass Einbeck eine wachsende Stadt mit hervorragender Lebensqualität sein wird, in der sich Zugezogene, Rückkehrer und Alteingesessene rundum wohl fühlen. 

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